Was ich in Tigray über die Fastenzeit gelernt habe
So seltsam es auch klingen mag, mein Besuch in Tigray im Norden Äthiopiens hat mir nicht nur zutiefst schockierende Einblicke in das Ausmaß der dort herrschenden humanitären Katastrophe gegeben. Es war zugleich auch eine unerwartete geistige Übung.
Mehrere Situationen, mit denen ich inmitten einer sich ausbreitenden Hungersnot konfrontiert war, waren vergleichbar mit der „Hölle auf Erden“.
Die 220 Menschen, die ich getroffen habe und die seit drei Jahren in einem ehemaligen Klassenzimmer leben - Menschen, die während des Krieges ihre Häuser verlassen mussten, schreien im wahrsten Sinne des Wortes nach einem „neuen Leben“. Ihre Tage verbringen sie nun damit, um Essen zu betteln.
In den letzten Wochen sind viele, die ihnen früher grosszügig geholfen haben, selbst zu Bettlern geworden. Das Klassenzimmer sieht jetzt nicht mehr aus wie eine Schule, sondern gleicht einem chaotischen, überfüllten Feldlazarett und die Menschen haben alle möglichen schweren Leiden – wie es für unterernährte Menschen typisch ist, insbesondere wenn sie auf so kleinem Raum zusammenleben müssen, wo es keine ausreichenden sanitären Einrichtungen gibt. Sieben sind bereits verhungert.
Etwa eine Million Binnenflüchtlinge leben in solchen Lagern und können seit dem Krieg nicht nach Hause zurückkehren. Und in der gesamten Region benötigen rund 4,5 Millionen Menschen dringend Nahrungsmittelhilfe. Sogar Ärzte und ehemalige Unternehmer wissen jetzt, wie es sich anfühlt, akuten Hunger zu erleben und müssen zuzusehen, wie ihre eigenen Kinder leiden. Natürlich beschränkt sich ihr Leiden nicht auf ihre aktuelle Situation. Fast alle von ihnen sind traumatisiert von den Gräueltaten, die sie während des Krieges erlebt und gesehen haben und trauern über den Verlust geliebter Menschen.
Die Menschen in Tigray sind ein zutiefst religiöses Volk; 96 % sind christlich-orthodox und gehören zu einer der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Was ich in diesen Tagen gelernt habe, ist, dass ihr Glaube sie nicht nur dazu bewegt hat, weltberühmte Felsenkirchen in die schroffen Klippen über ihren steinigen Feldern zu hauen, sondern sie und ihre Herzen auch sehr tief geprägt hat.
Während sie mir unzählige Geschichten über wahllose Hinrichtungen, Vergewaltigungen und das Verbrennen von Feldern usw. während des Krieges erzählten, hörte ich kein einziges Mal ein wütendes oder bitteres Wort – keine Rede von Rache. Ganz im Gegenteil, hörte ich die Tigrayaner sagen: „Alles, was wir wollen, ist Frieden, und um Frieden zu haben, müssen wir vergeben.“ Als ich sie fragte, wie sie all das, was ihnen angetan wurde, verzeihen könnten, kam es mir angesichts ihrer Antworten so vor, als hätte ich eine dumme Frage gestellt: „Ich bin Christ. Natürlich muss ich verzeihen. Ich muss es für mich tun – nicht nur für sie – damit wir Frieden haben können.“
Es wurde mir auch klar, dass noch viele tausend Menschen in Tigray verhungern würden, wenn es nicht diese unvorstellbare Nächstenliebe geben würde. Es scheint in diesen Gemeinschaften tief verwurzelt zu sein, in Zeiten der Not alles, was man hat, zu teilen. Niemand tritt als Held auf, wenn er das Wenige, das er hat, teilt, auch wenn er selbst hungert. Auch das scheint etwas zu sein, was ein Christ ganz selbstverständlich tut.
Als jemand, der die Fastenzeit wieder einmal ganz schlecht gemeistert hat, hatte ich das Gefühl, dass mir die Menschen, die ich in Tigray getroffen habe, zeigten, wie die drei Säulen der Fastenzeit (beten, Almosen geben, Buße) auch unter schlimmen Umständen und bei einer drohenden Hungersnot gelebt werden können.
Sogar die dritte dieser Säulen, die Busse – hier wird das auferlege Leiden, nicht ein selbst gewähltes, ertragen - erhielt einen Sinn. „Dieses unaufhörliche Leid – wir müssen es Gott geben“, sagte mir eine Frau. Und überall sah ich Menschen vor Kirchen und Bildstöcken knien und beten.
Und dann hatte ich einen kleinen Vorgeschmack auf die Freude und Hoffnung von Ostern; in den Schulen, wo Mary’s Meals-Mahlzeiten ausgegeben werden, betrat ich eine andere Welt. Lachende Kinder, die sich für ihre tägliche Mahlzeit anstellten. Schulen voller glücklicher Schüler, im Gegensatz zu denen, wo es keine Schulmahlzeiten gibt, die leer stehen, weil die Kinder ihre nächste Mahlzeit woanders suchen. Leben. Verwandlung. Hoffnung. All das und mehr wird mit jeder unserer Mahlzeiten geschenkt.
Ich habe noch nie Menschen gesehen, die schlimmeres Leid zu tragen haben, als unsere Brüder und Schwestern in Tigray. Heuer zu Ostern hoffe und bete ich, dass ihre Qual irgendwie gelindert wird. Dass die internationale Menschheitsfamilie ihre Not wahrnimmt und Maßnahmen ergreift, um eine grössere Hungersnot zu verhindern.
Ich bete, dass die Menschen von Tigray bald die Chance haben, uns zu zeigen, wie sie die Osterfreude leben.